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Tag 11: Fljótsvatn

Sonntag, 5.Juli 2009

Ruhetag am Fljótsvatn

Gegen halb zehn Uhr lockt uns das schöne Wetter aus den Zelten. Blauer Himmel, eindrucksvolle Wolkenformationen und ein kräftiger Wind. Unser Camp liegt inmitten grüner Wiesen, die von einem Geflecht kleiner Bäche mit kristallklarem Wasser durchzogen sind. Man kann sich bequem an den Rand des Baches setzen und die Morgentoilette erledigen. Jeder von uns hat sein eigenes Badezimmer.

Nach dem Frühstück beraten wir über den Weiterweg. Wir haben zwei Möglichkeiten. Die erste: wir wandern, wie ursprünglich geplant, hinüber zur Bucht Aðalvík und von dort aus nach Hesteyri. Das wären zwei volle Tagesetappen. Am Dienstagabend wartet unser Boot in Hesteyri, wir hätten also, den heutigen Tag eingerechnet, drei Tage zur Verfügung. Allerdings darf dann nichts Unvorhergesehenes passieren. Die zweite Möglichkeit: wir legen heute einen Ruhetag ein und gehen morgen auf direktem Weg über Glúmsdalur und Háaheiði nach Hesteyri. Das ist die sichere Variante, bei der wir allerdings die den Beschreibungen nach schöne Bucht Aðalvík auslassen.

In der Aussicht auf einen faulen Tag bei angenehmem Wetter fällt die Entscheidung für Variante zwei. So können wir in aller Ruhe unsere Sachen ordnen, ein paar verschwitzte Sachen herauswaschen, die nähere Umgebung erkunden oder einfach nur im Gras liegen und faulenzen.

Im Laufe des Vormittags wird der Wind immer kräftiger und böiger. Deshalb verziehen wir uns bald in die Zelte, um ein wenig zu lesen oder zu dösen. Ich liege im Halbschlaf, als ich plötzlich ein eigenartiges Geräusch vernehme: rrrrrtsch, rrrrrtsch, zweimal klingt es so als würde man ein Stück Stoff zerreißen. War das jetzt Traum oder Wirklichkeit? Ich schlage die Augen auf und blicke gegen ein ungewöhnlich helles, von der Sonne beschienenes Innenzelt. So schnell habe ich wahrscheinlich noch nie das Zelt verlassen. Draußen angekommen sehe ich die Bescherung: der böige Wind hat einen 40 bis 50 Zentimeter langen Riss in der Außenhaut hinterlassen. Im Eiltempo knüpfe ich das Zelt vom Gestänge ab und lege es flach auf den Boden, um dem Wind die Angriffsfläche zu nehmen. Die anderen haben sich auch schon aus ihren Schlafsäcken geschält.

An dieser Stelle muss ich ausnahmsweise ein wenig Werbung machen, für das Zelt nämlich, welches uns auf unserer Tour begleitet hat. Ich schicke voraus, dass ich mit der Firma Vaude weder verwandt oder bekannt bin, noch erhalte ich ein Salär für diese Zeilen. Das Zelt, ein Mark II, hatte ich vor fünfzehn (!) Jahren anlässlich unserer ersten Schottlandfahrt gekauft, und es war auf vielen Reisen durch ganz Europa und selbst in Afrika ein treuer Begleiter. Das Aufbauprinzip des Zeltes ist genial einfach: man legt das Zelt auf den Erdboden und steckt das Gestänge aus Spezialaluminium an den vier Ecken der Plane in die dafür vorgesehenen Dorne. An diesem Gerippe hängt man dann mittels elastischer Schnüre die Zelthaut auf, das Innenzelt ist bereits am Außenzelt befestigt. Kein lästiges Einfädeln des Gestänges in irgendwelche Schläuche, kein getrennter Aufbau von Innen- und Außenhaut, mit etwas Übung kann man das Zelt selbst bei Wind allein innerhalb von fünf Minuten aufbauen. Mir ist kein anderes Zelt mit diesem Aufbauprinzip bekannt. Material und Verarbeitung sind erstklassig, es ist wasserdicht und windstabil.

Der Riss im Zelt verläuft genau oberhalb der seitlichen Abspannung, dort wo bei Wind große Zugkräfte angreifen. Außerdem sind im Laufe der letzten 15 Jahre schon etliche Leute im Dunkeln über die seitliche Abspannung gestolpert, was manchmal unvermeidlich ist. Es war also nur eine Frage der Zeit, dass es zu einem solchen Malheur kommt. Übrigens hat Vaude die Schwachstelle offenbar schon erkannt: beim Nachfolgemodell Mark III (das zweite Zelt auf unserem Trek) verläuft an der Stelle, wo der Abspanner angreift, eine stabile Naht. Dort kann das Zelt praktisch nicht mehr reißen.

Wir beraten, was zu tun sei. Der Riss muss genäht werden, eine Reparatur allein mit Klebestreifen würde den bei Wind auftretenden Zugkräften nicht standhalten. Die Naht sollte keine Wulst bilden, damit später die Klebestreifen vollflächig auf dem Stoff aufliegen. Jetzt kommt uns Michas berufliche Erfahrung zugute: als Unfallchirurg hat er schon viele, wenn auch andere Risse genäht. Er schlägt Fasziendopplung nach Mayo vor, eine Naht, die den an sie gestellten Anforderungen genügt. Unser Zelt ist vermutlich das erste und einzige, welches diese chirurgische Spezialbehandlung erfährt. Während Micha mit Sternzwirn näht, halte ich die Klammern. Nach einer halben Stunde kann der Wundverband angelegt und der Patient aus der Narkose geholt werden. Die Operation ist gelungen, das Zelt wird, trotz kräftigen Windes, die letzten drei Tage unserer Tour klaglos überstehen.

Der Rest des Nachmittags vergeht ohne besondere Vorkommnisse. Am frühen Abend kommen, mit schweren Rucksäcken bepackt, zwei junge Männer an unserem Camp vorbei, die ersten Wanderer seit zwei Tagen. Der jüngere der beiden ist ein hagerer Fünfzehn- oder Sechzehnjähriger. Respekt. Vor ihnen liegt der steile Aufstieg über das Þorleifsdalur, welches wir tags zuvor herabgekommen waren. Wir beneiden sie im Moment nicht darum.

Am Abend frischt der Wind noch einmal auf, auf dem Fljótsvatn kräuseln sich kleine Wellen. Es ist empfindlich kalt geworden, bald verschwinden wir in unseren Zelten.


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