nil

Tag 10: Hlöðuvík - Fljótsvatn

Samstag, 4.Juli 2009

Wanderung Hlöðuvík - Fljótsvatn: 11,8 km

Heute ist es vorbei mit Petrus' guter Laune. Schon während der Nacht hatte es des Öfteren geregnet, und der Wind hat unsere Zelte kräftig durchgeschüttelt. Als ich das Zelt am Morgen öffne, hängen tiefe, vom Wind zerrissene Wolken in der Bucht. Bei diesem Wetter ist es am angenehmsten im Schlafsack, der Weiterweg muss warten.

Gegen zehn Uhr schälen wir uns aus den Schlafsäcken, langsam meldet sich der Hunger. Der böige Wind lässt unsere Plane, die wir zwischen den Zelten gespannt haben, laut knattern. René ist auch schon wach und gesellt sich für das Frühstück zu uns. Danach verkriechen wir uns wieder in die Zelte. Viel kann man bei dem unangenehm kalten Wind, der immer wieder Regenschauer vor sich hertreibt, sowieso nicht unternehmen.

So schön es im trockenen und warmen Schlafsack auch sein mag, irgendwann kann man nicht mehr liegen. So ähnlich muss sich senile Bettflucht anfühlen. Ich schlendre hinüber zu der Schutzhütte, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Sie ist winzig, auf einer Seite eine Toilette, auf der anderen eine Waschgelegenheit. Als Schutz gegen wirklich schlechtes Wetter ist sie allenfalls für höchstens drei oder vier Leute geeignet. Stehend könnte man dort das gröbste Ungemach abwarten, keine sehr angenehme Vorstellung. Da wäre es wahrscheinlich besser, sein Zelt im Windschatten eines der Holzhäuser zu errichten.

Schlafen, Dösen, Lesen, Teetrinken - irgendwie schaffen wir es, den Tag zu überstehen. Nach Wetterbesserung sieht es noch nicht aus. Trotzdem wir heute nur auf der faulen Haut lagen, ist das Hungergefühl am Abend wieder da. Und während wir beim Essen sind, sieht es plötzlich so aus, als würden die ständigen Regenschauer nachlassen. Sogar die Sonne bricht ab und an durch ein Wolkenloch. Wir beschließen, noch ein wenig abzuwarten und weiterzuziehen, wenn Aussicht auf eine längere trockene Phase besteht. Der Wind ist zwar unangenehm, aber erträglich, solange es nicht regnet.

Gegen halb neun Uhr abends ist es soweit. Wir haben unser Camp abgebrochen, alles in den Rucksäcken verstaut und sind bereit zum Aufbruch. René hat beschlossen, noch zu bleiben. Wir verabschieden uns, wahrscheinlich werden wir uns in Hesteyri wiedersehen.

Der Weg führt uns zunächst entlang des Strandes. Wegen des starken Windes ist das Meer ziemlich aufgewühlt, die Wellen zeigen weiße Schaumkämme. Ich schätze den Wind auf Stärke sechs bis sieben auf der Beaufort-Skala. Nach etwa zwei Kilometern erreichen wir einen Fluss, der aus der Vereinigung des Horná mit weiteren aus den Bergen kommenden Wasserläufen entsteht. Kurz vor der Mündung ins Meer macht der Fluss eine Wendung um 90 Grad nach Westen, um dann fast parallel zur Küstenlinie ins Meer zu fließen. Kurz vor der Mündung ist ein Seil von einem Ufer zum anderen gespannt. Der Fluss ist hier relativ schmal, vielleicht sieben oder acht Meter, aber dafür umso reißender. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, die Furt weiter oben, an einer breiteren, aber ruhigeren Stelle zu versuchen. Wir entscheiden uns aber, nicht zuletzt wegen des Seils, für das Furten an dieser Stelle.

Es ist unschwer zu erkennen, dass das Wasser hier ziemlich tief ist, wir müssen die langen Hosen ausziehen. Ich verkürze die Riemen meiner vor dem Bauch hängenden Fototasche, damit sie nicht in die Fluten eintaucht. Und dann geht es los. Bei den drei anderen habe ich schon gesehen, dass es eine wacklige Angelegenheit ist, bei der starken Strömung auf den rundgeschliffenen Steinen unbeschadet ans andere Ufer zu gelangen. Das Seil ist an dieser Furt wirklich äußerst hilfreich. Mitten im Fluss dreht sich plötzlich ein Kiesel unter meinem Fuß weg, und ich stehe fünfzehn Zentimeter tiefer im Wasser. Eine Welle schwappt gegen meine Fototasche und über sie hinweg. Nur gut, dass ich sie vor der Furt vollkommen geschlossen habe.

Am anderen Ufer angekommen untersuche ich zuerst die Fototasche. Sie hat dicht gehalten, die Kamera ist trocken geblieben. Spätestens jetzt bin ich froh darüber, mich seinerzeit für ein besseres, wenn auch etwas teureres Modell entschieden zu haben.

Wir gehen weiter am Strand entlang, linker Hand lassen wir die mächtige Bastion des fast 600 Meter hohen Alfsfell liegen. Fast am Ende der Bucht müssen wir noch die Kjalará furten. Diesmal finden wir wieder eine "Brücke" aus Treibholz vor, ein Schuhwechsel bleibt uns erspart. Danach steigt der Weg langsam an, er führt uns über saftig grüne Wiesen. Ein Pfad ist bald nicht mehr zu erkennen, so laufen wir oft querfeldein, was im hohen Gras und auf den weichen Moospolstern anstrengend ist.

Mittlerweile stecken wir mittendrin in den tiefhängenden Wolken, die Sicht beträgt kaum 30 Meter. Aber es bleibt trocken, mehr können wir nicht erwarten. Mittlerweile ist der Untergrund wieder steiniger geworden, ab und zu ist sogar ein Pfad zu erahnen. Und plötzlich lichtet sich der Nebel, wir tauchen auf aus dem grauen Einerlei, sind über den Wolken. Kurz vor dem Pass rasten wir noch einmal und genießen die Aussicht. Unter uns liegt, von den tiefen Wolken verhüllt, die Bucht Hælavík. Nur die Spitzen der die Bucht umschließenden Berge sind hoch genug, um aus dem Wolkenmeer herauszuschauen. Es sieht aus, als brande der Nebel gegen die sanft ansteigenden Wiesenhänge. Die Szenerie wechselt alle paar Augenblicke.

Gegen Mitternacht kommen wir am Pass Almenningaskarð an. Unter uns eine geschlossene Wolkendecke, aus der nur die Bergspitzen des Massivs zwischen Hlöðuvík und Fljótavík herausragen. Über uns eine dünne Schicht mittelhoher Wolken. Und dazwischen die fast im Norden stehende Mitternachtssonne, die beide Wolkenformationen anleuchtet, die eine von oben, die andere von unten. Unter der Wolkendecke hört man leise die unsichtbare Brandung rauschen. Eine unwirkliche Szenerie. Still voller Ehrfurcht vor der Schönheit des Augenblicks halten wir inne. Das ist wieder einer jener Momente, von denen Reinhard Karl meinte, man solle die Erinnerung daran in seine geistige Glasvitrine legen.

Langsam verschwindet die Sonne in der dichten Wolkendecke unter uns, in etwa einer halben Stunde wird sie wieder auftauchen. Wir ziehen weiter. Die Bergflanke des Fannalágarfjall liegt zu unserer Linken, zur Rechten, hinter den Bergen, das Meer. Der Weg ist mühsam, über grobes Geröll, Schneefelder und jene tückischen Abschnitte, auf denen man plötzlich bis zum Knöchel im Schlamm versinkt. Gegen halb drei Uhr erreichen wir die zweite Passhöhe, den Þorleifsskarð. Es ist inzwischen wieder ziemlich hell, unter uns liegt der Fljótsvatn, wie der Hafnaros eine Art Lagune, die nur einen schmalen Durchlass zum offenen Meer hat. Der See misst in der Länge etwa fünf Kilometer, seine Oberfläche ist spiegelglatt, ein Zeichen dafür, dass es dort unten windstill sein muss.

Vor uns liegt nun noch ein mühsamer Abstieg über das Þorleifsdalur. Schneefelder, steile Grashänge, felsige Abschnitte, zum Teil müssen wir die Hände zu Hilfe nehmen. Unten im Talboden müssen wir uns den Weg zwischen zahlreichen kleinen Bächen suchen, die sich hier gebildet haben. Gegen fünf Uhr morgens sind wir an einer Stelle, die wir kurzerhand für unser nächstes Camp erklären. Nach achteinhalb Stunden eindrucksvoller, aber auch anstrengender Wanderung sind wir alle müde. Wir kochen noch eine kräftige Brühe und einen Tee, dann verschwinden wir in unseren Schlafsäcken.


Zurück | Nach oben | Vor