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Tag 12: Fljótsvatn - Hesteyri

Montag, 6.Juli 2009

Wanderung Fljótsvatn - Hesteyri: 11,4 km

In der Nacht fängt es an zu regnen, und der Wind frischt zum Sturm auf. Als ich einen Blick nach draußen riskiere, bietet sich ein fantastisches Bild: über dem Fljótsvatn hängen tiefe Wolken, weit draußen auf dem Meer steht ein weißer Wolkenturm, der, von der Mitternachtssonne angestrahlt, rötlich leuchtet.

Die Temperatur ist gegenüber dem Vortag stark gefallen, am Morgen zeigt das Thermometer gerade mal 7 Grad Celsius. Es regnet leicht. Wir warten ab, vielleicht bessert sich das Wetter wieder. Gegen Mittag sind wir marschbereit, es nieselt nur noch leicht.

Wir steigen über das Glúmsdalur in Richtung Süden auf. Das Gelände ist anfangs nur wenig steil. Wir kommen am Glúmsstaðafoss, einem eindrucksvollen Wasserfall, vorbei. Über saftig grüne Wiesen, die immer wieder von Stellen giftgrünen Mooses durchsetzt sind, zieht der Weg hinauf in Richtung des Passes zur Háaheiði. Der Himmel ist noch immer wolkenverhangen. Während einer Rast probiere ich Michas rosarote Sonnenbrille aus. Und mit einem Mal sieht die Welt viel freundlicher aus. Fast könnte man meinen, es sei prächtiges Wetter. Jetzt wundert mich nicht mehr, dass Micha die Schlechtwetterphasen der vergangenen Tage so klaglos überstanden hat. Mit dieser Brille könnte man selbst einem Schneesturm noch positive Aspekte abgewinnen. Während wir anderen über nasse isländische Wiesen gewandert sind, lustwandelte Micha an irgendeinem Südseestrand, hübsche Hula-Mädchen inbegriffen.

Gegen halb vier Uhr haben wir die Passhöhe erreicht. Vor uns liegt eine riesige Ebene ohne jede Vegetation, die nur von Geröll bedeckte Háaheiði. Die Landschaft erinnert mich an die Lavawüsten des Hochlandes in Zentralisland. Große Stoamanderl, aus Steinen aufgeschichtete Türme, weisen den gut einsehbaren, eigentlich eindeutigen Weiterweg. Aber bei dichtem Nebel können diese Markierungen lebensrettend sein.

Wir legen eine kurze Rast ein, doch der kalte Wind lässt uns nicht lange verweilen. Ein letzter Blick zurück zum Fljótsvatn. In der Wolkendecke sind erste Löcher zu erkennen, durch die blauer Himmel schimmert. Inmitten der Geröllebene treffen wir auf einige in dicke Jacken gehüllte Wanderer, die von Hesteyri heraufkommen. Wir wechseln ein paar Worte mit ihnen, bevor jeder seines Weges zieht.

Am Ende der Geröllebene angekommen bietet sich ein herrlicher Blick auf den vor uns liegenden letzten Wegabschnitt. Fünfhundert Meter unter uns liegt der Heysteyrarfjörður, die Häuser von Heysteyri sind bereits zu erkennen. Doch bis dorthin müssen wir noch etliche Geröll- und Schneefelder überqueren, einige Flüsse umgehen und furten, ein paar von den tückischen Sumpfstellen hinter uns bringen. Je weiter nach unten wir steigen, desto besser wird das Wetter. Als wir gegen neunzehn Uhr in Hesteyri ankommen, ist es angenehm sonnig und warm. Große Wiesenflächen sind mit dem blau-purpurnen Waldstorchschnabel (Geranium sylvaticum) bewachsen. Inmitten dieser Blütenpracht ducken sich die bunten Holzhäuser von Hesteyri, die wir bei unserer Ankunft vor zehn Tagen im Nebel nur erahnen konnten, in die Fjordlandschaft. Wir sind am Ziel unserer Reise angekommen.

Natürlich, wir sind froh, unsere Tour wie geplant, von dem fehlenden Abstecher über Aðalvík abgesehen, ohne größere Blessuren hinter uns gebracht zu haben. Doch ähnlich wie bei einer Bergfahrt, mischt sich ein wenig Wehmut in das Glücksgefühl. Die ganze Zeit hat man das Ziel, den Gipfel vor Augen, und wenn man diesen erreicht hat, stellt man plötzlich fest, dass etwas fehlt. Man hat das Abenteuer hinter sich, ein eigenartiges Gefühl von Leere stellt sich ein. Insgeheim denkt man schon an das nächste Ziel. Wirklich oben bist du nie...

Wir kommen zum Old Doctor's House, einem weiß getünchten, zweigeschossigen Holzhaus mit grünen Fenstern, Türen und Dach. Auf der Veranda vor dem Haus treffen wir René wieder. Er ist von Hlöðuvík aus auf direktem Weg nach Hesteyri gewandert. Im Old Doctor's House gibt es einfache Übernachtungsmöglichkeiten, René hat sich dort einquartiert. Wir entscheiden uns dafür, unseren Zelten treu zu bleiben, der Campground befindet sich nur wenige Minuten weiter auf einer großen Wiese.

Aber zunächst werfen wir unseren Ballast ab, bestellen uns einen Kaffee und lassen uns die warme Sonne auf den Pelz brennen. Das Old Doctor's House wird von einer freundlichen alten Dame und deren Schwiegertochter betrieben. Neben ein paar einfachen Speisen sind Kaffee, Tee und Mineralwasser im Angebot. Bier - leider Fehlanzeige.

Nach kurzer Zeit stellt sich heraus, dass die schon erwähnte Schwiegertochter, eine Frau in den Vierzigern, eine Deutsche ist. Sie lebt seit etlichen Jahren auf Island, während der zwei, drei Sommermonate hier in Hesteyri, für den Rest des Jahres in Bolungarvík, nordwestlich von Ísafjörður. Wir wollen von ihr natürlich wissen, wie es sich hier auf Island lebt und wie die Menschen mit der Finanzkrise umgehen. Ähnlich wie schon der Leuchtturmwärter von Látravík erzählt auch sie, dass es die Isländer arg getroffen habe. Aber, da sei sie guter Hoffnung, Island werde wohl bald wieder auf den Beinen stehen. Die Isländer seien keine Jammerlappen, schließlich hätten sie gelernt, mit Katastrophen umzugehen.

Wir fragen sie, wie man die lange Zeit der Dunkelheit überstehe. Das sei gar nicht so dramatisch, meint sie. Na ja, manchmal sei es schon schwer, schränkt sie ein. Die Holzhäuser der Isländer seien innen sehr gemütlich eingerichtet. Anfang Dezember beginne man mit den Weihnachtsvorbereitungen, und das eigentliche Fest ziehe sich oft bis Ende Januar hin. Der Februar gehe auch noch, aber dann falle man in ein ziemlich tiefes Loch. Ende Februar werde es zwar schon wieder heller, aber das Wetter sei manchmal zum Davonlaufen. Im Mai gebe es meist noch einmal heftige Winterstürme mit viel Neuschnee. Und dann, im Juni käme plötzlich, ohne Frühling, fast über Nacht, der Sommer. Und die zwei, drei Sommermonate entschädigten für alles. Die Natur explodiere förmlich, und alle Unbill der dunklen Jahreszeit sei vergessen. Bis zum nächsten Mal...

Wir bestellen bei der Hausherrin für kommenden Nachmittag eine Fischsuppe, die René uns wärmstens empfohlen hat, schultern unsere Rucksäcke und laufen hinüber zum Campground. Der Weg am Strand entlang führt durch einen Hain übermannshoher Engelwurzstauden. Gleich hinter dem Friedhof von Hesteyri liegt eine große Wiese, die als Campground dient. Knapp zehn Zelte stehen schon dort, für uns bleibt also noch genug Platz, ohne dass wir dem nächsten Nachbarn zu nah kommen. Nachdem wir die Zelte errichtet haben, durchforsten wir unsere Rucksäcke nach den restlichen Nahrungsmittelbeständen. Wir haben wirklich gut geplant, viel ist nicht mehr übrig, aber für das letzte Abendmahl wird es noch reichen.

Der Gaskocher surrt leise vor sich hin, wir haben hinter einem kleinen Hügel, der als Windschutz dient, Stellung bezogen und genießen die wärmenden Strahlen der Abendsonne. Irgendwie ist es doch ganz angenehm zu wissen, dass wir morgen nicht weiterziehen müssen.


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