Heute heißt es, sehr früh aufzustehen. Uns steht eine lange Fahrt durch den Hohen Atlas bevor. Wir verlassen unser Riad im Dunkeln, es ist gegen halb sechs Uhr. Um diese Zeit liegen die Gassen von Marrakech noch im Tiefschlaf. Ein Kleinbus steht für uns bereit, neben uns sind der Fahrer, Mohamed, Ismail, unser Koch, und Nabil mit an Bord.
Schnell lassen wir Marrakech hinter uns. Als wir die Ausläufer des Hohen Atlas erreichen, bricht die Dämmerung an. Auf kurvenreichen Straßen kommen wir an grünen Wäldern und Feldern vorbei. Die Mandelbäume blühen um diese Jahreszeit bereits, rosa die Bittermandel und weiß die Süßmandel. Jedes noch so kleine Fleckchen Erde, wenn es denn einigermaßen eben ist, wird bewirtschaftet. Die kleinen Dörfer im Hohen Atlas künden von einem bescheidenen Wohlstand.
Schon tauchen die ersten schneebedeckten Gipfel auf. Wir müssen an die beiden jungen Frauen vom Münchner Flughafen denken. Sie werden den Schnee, auf dem sie ihre Skitouren zu unternehmen gedachten, wohl suchen müssen. In einem kleinen Gasthaus machen wir Rast und trinken einen Tee. Dann erreichen wir den Tichka-Pass (Col du Tichka, 2260 m). Gelegentlich steckt unser Kleinbus in einer Herde Schafe fest, die gerade die Straße überquert. In einer kleinen Fleischerei an der Straße werden gepökelte Teile von Rindern und Schafen feilgeboten.
Gegen halb elf Uhr erreichen wir Ouarzazate. Am Stadtrand liegen mehrere Filmstudios, darunter die Atlas Corporation Studios. Die nahe Wüste diente vielen Filmen als perfekte Kulisse, u.a. wurden hier Teile des Medicus gedreht.
Ouarzazate ist eine moderne Stadt mit heute etwa 100000 Einwohnern, sie wurde erst im Jahre 1928 von der französischen Kolonialverwaltung gegründet. In der riesigen Ebene zwischen Hohem Atlas und Anti-Atlas gelegen gibt es hier viel Raum zum Bauen. Breite Straßen, großzügige Plätze - Ouarzazate ist der architektonische Gegenentwurf zu Marrakech.
Während unsere Mannschaft verschiedene Einkäufe für die vor uns liegenden Tage in der Wüste tätigt, schlendern wir über den prächtigen Place Al Mouahidine. Die Auslagen der wenigen kleinen Läden am Rande des Platzes sind genauso bunt und exotisch wie in Marrakech. Alles geht hier allerdings sehr viel ruhiger und gelassener zu.
Wir verlassen Ouarzazate und nähern uns dem Anti-Atlas. Auf kühnen Serpentinen geht es durch die fast vegetationslose Landschaft. Der Anti-Atlas zwischen Ouarzazate und Zagora ist eine Steinwüste in Gelb, Braun und Schwarz, völlig anders als der grüne Hohe Atlas, aber nicht minder faszinierend.
Auf halbem Weg zwischen Ouarzazate und Zagora legen wir eine Mittagspause ein. Ein kleiner Palmenhain spendet Schatten. Mohamed, Ismail und Nabil zaubern innerhalb weniger Minuten einen leckeren Imbiss aus Fladenbrot, frischem Gemüse und Hühnchen. Nach dem Essen gibt es Tee. Der wird in Marokko zu jeder Tageszeit und Gelegenheit getrunken. Berber-Whisky nennt Mohamed das erfrischende Getränk scherzhaft, das er gekonnt mit dickem Strahl von der Kanne in die Gläser befördert.
Dann unterweist uns Mohamed in der Kunst, einen Chèche zu binden, die traditionelle Kopfbedeckung der Berber. Anfangs ungewohnt wird uns der Chèche in den nächsten Tagen zuverlässig gegen Sonne, Wind und Sand schützen – viel besser als der breitkrempige Hut, wie ich ihn von zu Hause mitgebracht hatte.
Unsere Fahrt führt uns weiter durch das berühmte Drâa-Tal. Der Fluss ist gesäumt von grünen Feldern und Palmenhainen. Schließlich erreichen wir Zagora, den letzten Vorposten der Zivilisation, bevor das Reich der Sahara beginnt. Hier finden wir das bekannte Schild, das uns darauf hinweist, dass es bis Timbuktu 52 Reisetage sind – im Tempo einer Kamelkarawane wohlgemerkt. Unser heutiges Ziel ist nur noch eine halbe Tagesreise entfernt. Die letzten paar Kilometer mit dem Auto erfordern allerdings das Umladen unseres Gepäcks auf ein geländegängiges Fahrzeug.
Wir verlassen Zagora auf einer staubigen Piste und tauchen ein in die Welt der Wüste. Nach wenigen Kilometern, am Fuß des Passes El Gatara, ist unsere Fahrt zu Ende. Wir sehen einen Berber mit zwei Dromedaren den schmalen Pfad vom Pass herabsteigen. Es ist Youssef, einer der Dromedarführer, der uns in den nächsten Tagen begleiten wird. Er trägt das traditionelle Gewand der Berber, eine lange, graue Djellaba mit schwarzem Chèche. Schräg über seiner Schulter hängt ein kleines braunes Täschchen, das Youssef in den folgenden Tagen nie ablegt.
Mit geübten Handgriffen beladen die vier Männer die beiden Dromedare. Wir sortieren unsere kleinen Rucksäcke, und zusammen mit Mohamed machen wir uns auf den Weg in Richtung des Passes. Die rund zweihundert Höhenmeter bis zum Pass El Gatara (1066 m ü.NN) sind schnell geschafft. Am Pass bläst ein frischer Wind, wir genießen die prächtige Aussicht auf die unter uns liegende Ebene. Die Landschaft ist geprägt von Tafelbergen, die sich aus der weiten Ebene erheben. Mohamed hatte uns schon darauf vorbereitet, dass wir die ersten beiden Tage eine Steinwüste durchwandern werden. Steinwüsten sind ebenso typisch für die Sahara, wie Sandwüsten. Im Gegenteil – nur ein relativ kleiner Anteil der Sahara besteht aus Sandwüste.
Nach einer knapp zweistündigen Wanderung erreichen wir unser erstes Wüstenlager. Hier treffen wir Ibrahim, einen weiteren Dromedarführer. Die typischen weißen Berberzelte stehen schon: ein Küchenzelt, ein Zelt, das als Ess-, Aufenthalts- und Umkleideraum dient, und ein kleines Toilettenzelt. Letzteres hat in seinem Innern ein kleines Loch in der Erde, das Toilettenpapier wird separat gesammelt. Vor der Weiterreise wird das Loch in der Erde geschlossen und das Toilettenpapier verbrannt.
Als Begrüßung bei unserer Ankunft im Lager bekommen wir einen frisch gebrühten Tee, den Berber-Whisky, wie Mohamed in scherzhaft nennt. Ein schönes Zeremoniell, welches sich in den nächsten Tagen noch oft wiederholen wird.
Nach dem wohlschmeckenden und reichlichen Abendessen richten wir unser Nachtlager. Mohamed hat zwar zwei kleine Zelte dabei, aber wir entscheiden uns dafür, unter freiem Himmel zu schlafen. Es ist eine ruhige, mondhelle Nacht.