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Wiñay Wayna - Machu Picchu - Cusco

Montag, 18.Juni 2012

Camino Inca, Etappe 4

Es ist gegen halb vier Uhr und noch dunkel, als wir aufstehen. Rucksäcke packen, Seesack schnüren, Zelte leerräumen. Die Träger warten schon ungeduldig darauf, dass sie die Zelte abbauen können. Sie stehen unter Zeitdruck, müssen ihren Zug in Aguas Calientes erreichen. Wieder kommen mir leise Zweifel, dass in dem Chaos, noch dazu im Dunkeln, wirklich kein Gepäckstück liegenbleibt. Aber diesmal bin ich zuversichtlich, und am Nachmittag wird sich zeigen, dass erneut alles bestens funktioniert hat.

Nach dem Frühstück reihen wir uns in die Schlange der Wartenden ein. Der letzte Abschnitt des Inka-Trails wird besonders streng kontrolliert. Gegen halb sechs Uhr geht es endlich los. Die Lichterschlange aus Stirnlampen setzt sich in Bewegung.

Marco, unser Guide, hatte uns am Vorabend über den Ablauf des heutigen Tages informiert. Die letzte Etappe bis zum Sonnentor Intipunku sei relativ kurz, etwa ein bis eineinhalb Stunden. Um bei Sonnenaufgang dort einzutreffen, bräuchten wir uns also nicht zu beeilen. Die Realität an diesem Morgen sieht leider anders aus. Der an einer steil abfallenden Bergflanke unterhalb von Intipata entlangführende Weg ist schmal, und die Lichterschlange entwickelt eine Eigendynamik. Wir rennen mehr, als dass wir gehen. Stehenbleiben ist praktisch unmöglich, weil man den Nachkommenden den Weg versperrt und seinerseits den Anschluss an seine Gruppe verliert. Nicht das Rennen an sich stört mich, sondern die Tatsache, dass man von den grandiosen Ausblicken ins Tal des Río Urubamba, die sich in der langsam einsetzenden Dämmerung eröffnen, definitiv nichts hat. Hastig schieße ich ein, zwei Fotos.

Ein letzter kurzer, aber steiler Anstieg führt hinauf zum Sonnentor Intipunku (2745 m). Man tritt in freies Gelände, und dann liegt einem Machu Picchu zu Füßen. Man hat dieses Bild auf Fotografien und in Filmen schon tausendmal gesehen – und ist trotzdem beeindruckt. Die Sonne ist noch nicht zu sehen, über Machu Picchu hängen Wolkenfetzen, ein geradezu mystisches Bild. Wir setzen uns ins Gras und lassen die grandiose Szenerie auf uns wirken. Noch sind kaum Menschen in der alten Inka-Stadt zu sehen. Das wird sich aber bald ändern, wenn der erste Zug in Aguas Calientes eintrifft und die Busse nach Machu Picchu mit Touristen füttert.

Langsam machen wir uns an den Abstieg hinunter in die Stadt. An einem Glücksstein opfern wir ein paar Coca-Blätter. Vielleicht wird uns das Glück dadurch hold. Der berühmte Physiker Niels Bohr wurde zu einem Hufeisen, welches über der Eingangstür seines Labors hing, einmal befragt, ob er denn an so etwas glaube. Natürlich nicht, antwortete er, aber er habe gehört, dass es auch helfe, wenn man nicht daran glaube.

Machu Picchu ist übrigens Quechua und bedeutet Alter Berg. Einen Berg dieses Namens gibt es auch, an seiner Nordostflanke führt das letzte Stück des Inka-Trails von Intipunku nach Machu Picchu. Er thront über dem Wärterhäuschen von Mirador, dem Aussichtspunkt, den man auf diesem letzten Wegstück als erstes erreicht.

Am offiziellen Eingangstor von Machu Picchu geht unser Inka-Trail zu Ende. Eine Mischung aus dem schönen Gefühl, am Ziel dieses berühmten Treks angekommen zu sein, und ein wenig Wehmut, dass es nun zu Ende ist, erfüllt wohl die meisten von uns. Nochmals werden unsere Tickets kontrolliert, dann begeben wir uns mit Marco als Guide auf einen Rundgang durch die alte Inka-Stadt.

Über Machu Picchu ist schon so viel geschrieben worden, dass ich nichts Neues hinzuzufügen wüsste. Drei Dinge möchte ich trotzdem erwähnen.

Erstens. Ganz gleich um welchen Ort der Erde es sich handelt und wie viel man darüber schon gesehen, gelesen, gehört hat: eigenes Erleben, die Aura eines Ortes selbst zu fühlen, sind durch nichts zu ersetzen. Und an einem solch außergewöhnlichen Ort wie Machu Picchu wird uns modernen, aufgeklärten Menschen einmal mehr vor Augen geführt, zu welch unglaublichen Leistungen die Menschen vergangener Jahrhunderte fähig waren. Ohne Smartphone, ohne Computer, ohne Internet.

Zweitens. Wir sollten alles daransetzen, dass Orte wie Machu Picchu auch nachfolgenden Generationen erhalten bleiben. Angesichts der enormen Besucherströme, zu denen wir selbst natürlich auch beitragen, erscheint die Kritik an der kommerziellen Ausbeutung solcher Stätten mit all ihren negativen Folgen als sehr real. Gewiss, Peru braucht die Einnahmen aus dem Tourismus, und kultur- und geschichtsinteressierte Menschen haben ein verständliches Anrecht auf den Besuch derartiger Plätze. Aber man wird zukünftig einen vernünftigen Kompromiss finden müssen.

Drittens. Als Hiram Bingham von der Yale University Anfang des letzten Jahrhunderts Machu Picchu „entdeckte“ und nachweislich viele ausgegrabene Funde außer Landes schaffte, war dies nicht mehr und nicht weniger als Kunstraub. Und die Forderungen Perus nach vollständiger Rückgabe der geraubten Güter, die einen wichtigen Teil der Identität des Landes ausmachen, sollten von den USA nicht länger ignoriert werden.

Je weiter der Tag fortschreitet, desto voller wird es in der alten Inka-Stadt. Nach dem Rundgang durch die Anlage ziehen wir uns nach ganz oben, zum Mirador zurück, setzen uns auf einer der Terrassen ins Gras und lassen den Ort noch ein wenig auf uns wirken. Es wäre interessant gewesen, auf den Wayna Picchu, den kühnen Sporn, der die Inka-Stadt bewacht, zu steigen. Oder von Aguas Calientes aus auf den imposanten Kegel des Putukusi. So werden wir wohl irgendwann zurückkommen müssen. Gegen elf Uhr begeben wir uns zum Bus, der uns über die steilen, vom Sonnentor Intipunku aus gut sichtbaren Serpentinen, hinunter nach Aguas Calientes bringt.

Aguas Calientes, ursprünglich ein verschlafenes Dörfchen, das zufällig am Bahngleis lag, ist heute voll und ganz auf Tourismus eingestellt. In einem der zahlreichen Restaurants direkt an der Bahnlinie lassen wir uns nieder. Ein letzter Plausch mit unserem Guide Marco, denn auch er wird nicht mit nach Cusco kommen. Er bringt uns zum Bahnhof, wir verabschieden uns von ihm, und damit ist das Erlebnis Inka-Trail endgültig zu Ende.

Wir wechseln vom Inka-Trail zum Inca Rail, einem der historischen Züge, die wir vor drei Tagen am Start bei Kilometer 82 bereits gesehen hatten. Gemächlich schaukelt der Zug durch das Tal des Río Urubamba. An manchen Stellen fließt der Fluss ruhig dahin, an anderen gebärdet er sich wild und ungestüm. Ein Dorado für Wildwasserkanuten. Steil ragen die Berge der Cordillera Urubamba beidseits der Gleise in den Himmel, ein letztes Mal grüßt der Eisriese Nevado Veronica durchs Zugfenster. Es wäre schön gewesen, durch das Flusstal zurückzuwandern, aber dafür ist leider keine Zeit.

In Ollantaytambo wartet Tine schon mit dem Bus auf uns, der uns zurück nach Cusco bringt. Es gibt natürlich viel zu erzählen. Auf der Rückfahrt, im Licht der sinkenden Sonne, liegen die Cordillera Vilcabamaba und die Cordillera Urubamba noch einmal in voller Schönheit vor uns. Ein faszinierendes Stück Erde, von dem wir Abschied nehmen.


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