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Tag 4: Skorarvatn - Bolungarvík

Sonntag, 28.Juni 2009

Wanderung Skorarvatn - Bolungarvík: 12,6 km

Als wir morgens gegen halb elf Uhr unser Camp verlassen, hängen noch Nebelfetzen über dem Tal, aber die Sonne vertreibt sie schnell. Am Ostufer des Skorarvatn überqueren wir ein großes Schneefeld, direkt am Ufer schimmert bläuliches Eis. Das Tal hinter dem See fällt sanft ab bis zum Furufjörður, den wir in der Ferne schon liegen sehen. Wir laufen über saftige Wiesen mit unzähligen Wildblumen, immer wieder müssen wir sumpfige Stellen weiträumig umgehen. Kurz vor der Küste furten wir unseren ersten Fluss, der kurz unterhalb des Skorarvatn entspringt, sich mit weiteren kleinen Flüssen vereinigt und in den Furufjörður mündet. Die Furt ist weder besonders breit noch tief, so dass wir ohne Probleme hinüberkommen. Das einzig Lästige an der Sache ist, dass man die Bergschuhe gegen die Watschuhe tauschen muss, und wenn man mehrere Flüsse am Tag zu furten hat, kostet das Zeit.

Am Furufjörður machen wir Rast und werfen einen Blick auf die Karte. Der Weiterweg in Richtung Bolungarvík führt direkt am Strand entlang und ist als gepunktete Linie dargestellt. Der Legende entnehmen wir, dass diese Wegstrecke nur bei Ebbe begehbar ist. Eine Gezeitentafel hatten wir vorsichtshalber mitgenommen. Leider steht die Flut kurz bevor, so dass wir mehrere Stunden warten müssen. Da prächtiges Wetter herrscht - es steht nicht eine Wolke am Himmel - soll uns das Warten nicht schwerfallen.

Wir nehmen ein Bad im nahegelegenen Fluss, um uns den Schweiß der vergangenen zwei Tage von der Haut zu waschen. Lange halten wir es in dem eiskalten Wasser nicht aus.

Einige hundert Meter von uns entfernt ist ein Gehöft zu erkennen, und da wir genügend Zeit haben, wandere ich hinüber. Zunächst komme ich an einem kleinen Friedhof vorbei, vielleicht zehn, fünfzehn schlichte Holzkreuze stehen hier. Die Gräber sind von Wildblumen und Engelwurz überwuchert. Die jüngste Inschrift auf einem der Holzkreuze stammt vom Anfang der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Hornstrandir war einmal vergleichsweise dicht besiedelt, aber als in den 1950er Jahren der Hering ausblieb, brach damit die Lebensgrundlage der vom Fischfang lebenden Menschen weg, und die meisten wanderten ab.

Wenige Meter weiter befindet sich das renovierte Gehöft. Es ist sogar mit einem Solarpaneel ausgestattet. Türen und Fenster sind verschlossen. Das Haus hat eine umlaufende Veranda, von der aus man einen schönen Blick über die ganze Bucht hat. Offenbar dient es als Sommerhaus, aber es scheint schon längere Zeit nicht mehr benutzt worden zu sein. Der Zugang zum Haus ist mit halbmannshoher Engelwurz überwachsen. Hinter dem Gehöft sind unter dichter Vegetation die Reste eines alten Traktors zu erkennen.

Ich gehe wieder zurück zu den anderen, die in der angenehm warmen Sonne dösen. Wir nehmen nochmals einen Blick in die Gezeitentafel. Abhängig von den konkreten Bedingungen könne man bestimmte Wege auch ein, zwei Stunden vor oder nach der Ebbe begehen. Wir beschließen weiterzuziehen und wenn nötig vor Ort auf günstigere Bedingungen zu warten. Nach einer Viertelstunde kommen wir an der Nothütte vorbei, die es laut Karte in diesem Fjord geben sollte.

Der Weiterweg geht stellenweise direkt am Strand entlang. Längere Abschnitte führen über kleinere und größere, vom Wasser rundgeschliffene Steine. Mit dem schweren Rucksack ist es ein mühsames Gehen. Gelegentlich müssen wir uns durch schmale Lücken zwischen zwei Felsen hindurchmanövrieren. Als wir das Ende dieses beschwerlichen Wegabschnitts erreichen, sind wir alle erleichtert. Und was die Ebbe betrifft: man hätte die Strecke vermutlich auch bei Flut gehen können, einige Stellen hätten vielleicht umklettert, andere mit Watschuhen begangen werden müssen. So haben wir ein paar Stunden umsonst gewartet, aber da es ein schöner Platz mit perfektem Wetter war, sind wir nicht böse darum.

Inzwischen ist die Sonne verschwunden, der Himmel ist bedeckt. Es sieht aus, als würde das Wetter umschlagen. Der Weg führt nun wieder durch saftige Wiesen. Nach einem Anstieg auf zwanzig, dreißig Meter über den Meeresspiegel steht plötzlich der Drangar vor uns, eine kühne Felsnadel, die sich etwa 30 Meter vor der Küstenlinie aus dem Meer erhebt. Eine Raubmöwe fliegt mit lautem Geschrei einen Scheinangriff gegen uns und kehrt dann zu ihrem Platz auf der Spitze des Drangar zurück. Das Spiel wiederholt sich mehrmals.

Bald kommt ein einzelnes Holzhaus unweit des Strandes in Sicht. Wir hatten zwar bei Bolungarvík ein Guest House in der Karte gesehen, dies aber nicht für bare Münze genommen. Unser Weg führt direkt über die Veranda des kleinen Hauses. Als wir vorbeigehen, kommt eine junge Frau heraus. Mit ihrer kleinen Tochter und ihrer Mutter lebe sie im Sommer hier, erzählt sie. Mit der jüngeren Frau ist eine Verständigung auf Englisch problemlos, die ältere spricht nur isländisch. Und das Guest House gibt es wirklich: vielleicht 800 Meter weiter sieht man es stehen. Sie seien mit den Vorbereitungen zur Inbetriebnahme gerade noch rechtzeitig fertiggeworden. Wir seien die ersten Wanderer in diesem Jahr, die vorbeikämen.

Vor dem zum Haus gehörenden Schuppen liegt ein kleines Motorboot, die einzige Möglichkeit hierher zu gelangen, außer zu Fuß natürlich. Alles sieht noch etwas unfertig, improvisiert aus. Aber Gäste, die Wert auf Luxus legen, sind hier ohnehin nicht zu erwarten.

Plötzlich schießt ein hundeähnliches Tier mit einem zerzausten, schwarzbraunen Fell aus der Tür des Hauses und verschwindet in Richtung Strand. Hunde sollte es auf Hornstrandir doch gar nicht geben! "It looks like a fox!?", sage ich zu der jungen Frau. "It is a fox!", antwortet sie. Das also ist sie, unsere erste Begegnung mit einem Polarfuchs. So hatten wir uns das allerdings nicht vorgestellt. Während der Planung unserer Reise hatte ich aber gelesen, dass der Polarfuchs im Allgemeinen wenig Scheu vor dem Menschen zeigt. Zum einen ist ganz Hornstrandir Naturschutzgebiet, und der Fuchs darf selbstredend nicht bejagt werden. Zum anderen weiß er natürlich ganz genau, dass es in der Nähe des Menschen immer etwas zu holen gibt.

Auch für uns gibt es etwas zu holen: die junge Frau hat nämlich Bier auf Lager, und das kommt uns allen sehr recht. Vorher aber wollen wir unsere Zelte aufbauen. Wir gehen hinüber zum Gästehaus. Daneben befindet sich ein kleiner Campground und ein Toilettenhäuschen. Die Zelte stehen nach kurzer Zeit, zum Kochen benutzen wir die zum Gästehaus gehörende kleine Küche.

Nach dem Abendessen laufen wir noch einmal hinüber zu unserer Gastgeberin, um unser Bier in Empfang zu nehmen. Bezahlen könnten wir morgen, meint sie. Auf dem Rückweg zu unseren Zelten taucht plötzlich der Fuchs von vorhin wieder auf. Er hat am Strand einen toten Fisch gefunden, der fast genauso groß ist, wie er selbst. Er lässt uns bis auf fünf oder sechs Meter an sich heran, eine ungewöhnlich kurze Fluchtdistanz für ein Wildtier. Irgendwie fühlt er sich dann doch durch unsere Anwesenheit gestört und verschwindet in Richtung Strand. Seinen Fisch wird er sich später holen.

Als wir zum Campground zurückkommen, steht da ein weiteres Zelt. Es beherbergt zwei junge Frauen, die einzigen Wanderer, die wir in den ersten vier Tagen treffen werden. Wir schauen uns das Gästehaus an. Neben der kleinen Küche gibt es noch Schlafräume, die etwa zwanzig Wanderern Platz bieten. Bei wirklich schlechtem Wetter sicher eine angenehme Alternative zum Zelt.

Wir genießen das Bier und verschwinden dann recht bald in unseren Schlafsäcken. Irgendwie fühle ich mich heute ziemlich geschafft. Wahrscheinlich habe ich von zu Hause einen Infekt mitgebracht. Ausgerechnet jetzt.


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