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Tag 3: Ísafjörður - Hrafnfjörður - Skorarvatn - Drangajökull

Samstag, 27.Juni 2009

Bootsfahrt Ísafjörður - Hrafnfjörður: 74,5 km; Wanderung Hrafnfjörður - Skorarvatn: 4,2 km; Wanderung Skorarvatn - Drangajökull und zurück: 8,0 km

Um sieben Uhr sitzen wir am Frühstückstisch im Edda-Hotel und genießen das üppige Angebot. Für die nächsten elf Tage die letzte reichliche Mahlzeit.

Als wir uns mit unseren Rucksäcken auf den Weg zum Hafen machen, hängt über Ísafjörður noch eine zähe Nebeldecke. Unser Boot wartet schon. Gegen halb zehn heißt es "Leinen los". Die Luft ist kühl, der Fahrtwind auf dem Boot lässt uns schnell unsere warmen Jacken herausholen.

Mit etwa 18 Knoten pflügt das Boot durch den Ísafjardardjup gen Nordost. Der dichte Nebel gibt den Blick auf die umliegenden Berge immer nur für wenige Momente frei. Der Kapitän sitzt, die Hände in den Schoß gelegt, am Steuer. Das Boot sucht sich seinen Weg mit Hilfe eines GPS allein. Gelegentlich wählt der Kapitän mit seiner Maus irgendeinen Menüpunkt am Monitor aus, das ist alles, was er, abgesehen vom Ab- und Anlegen, manuell zu tun hat.

Nach einer Dreiviertelstunde verlangsamt das Boot seine Fahrt, wir nähern uns dem Anlegesteg von Hesteyri. Schemenhaft tauchen drei, vier bunte Holzhäuser aus dem Nebel auf. René verlässt das Boot, wir wünschen uns gegenseitig gutes Gelingen. Weitere Fahrgäste steigen aus, ein paar junge Männer zu, sie haben Ihre Tour offenbar schon hinter sich.

Als nächstes steuert das Boot den Veiðileisufjörður an. Ein isländisches Ehepaar mit seiner etwa zwölfjährigen (sic!) Tochter macht sich fertig zum Aussteigen. Sie haben ziemlich große Rucksäcke dabei. Respekt! Langsam lichtet sich auch der zähe Nebel. Steil ragen die den Fjord säumenden Berge in die Höhe. Am relativ flachen Ufer im letzten Zipfel des Fjords sind außer einem der typischen, mit einem Spitzdach versehenen Toblerone-Toilettenhäuschen keine Spuren irgendwelcher Zivilisation zu erkennen.

Da es keinen Landungssteg gibt, werden die drei mit dem Schlauchboot an Land gebracht. Der Kapitän kümmert sich in der Zwischenzeit um die Säuberung der über und über mit Tang und Muscheln bedeckten Boje, an der das Boot Halt gemacht hat.

Nach kurzem Aufenthalt geht es weiter. Die nächsten Ausstiegskandidaten sind wir. Als wir den Hrafnfjörður erreichen, hat sich die Sonne endgültig durchgesetzt. Auch wir werden mit dem Schlauchboot angelandet. Der Bootsführer reicht uns unsere Rucksäcke und verabschiedet uns wortkarg, bevor er zurück zu seinem Mutterschiff fährt. Kurze Zeit später entschwindet es unseren Blicken. Es ist gegen ein Uhr mittags.

Die Rucksäcke liegen auf den vom Wasser rundgeschliffenen Steinen am Strand unseres Fjords. Die angenehm warme Sonne tut gut nach der kühlen Bootsfahrt. Wir sind allein. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, in elf Tagen wird uns das Boot in Hesteyri wieder abholen. Hoffentlich.

Wir schultern die Rucksäcke, nehmen noch einen Blick auf die Karte. Ich schalte das GPS ein, möchte alle unsere Tracks aufzeichnen. Irgendwo in der Nähe muss es laut Karte eine Schutzhütte geben. Wir gehen durch üppig grüne Wiesen entlang der Küstenlinie. Allenthalben finden sich Ansammlungen von Rosenwurz und Stengellosem Leimkraut. Bald kommen die Schutzhütte und das Toilettenhäuschen in Sicht. Wir werfen einen Blick ins Innere der Holzhütte. Sie bietet im Ernstfall mehreren Wanderern Platz und ist mit einigen Nahrungsmitteln und medizinischen Notfallartikeln ausgestattet. Die Schutzhütten sind nur für den Notfall gedacht und sollten nicht als willkommene Gelegenheit genutzt werden, das Zelt nicht aufbauen zu müssen.

Wir wollen heute bis zum See Skorarvatn aufsteigen. Der See liegt in einem Hochtal in etwa 200 m Höhe. Dort wollen wir unser erstes Camp aufschlagen und von da aus am Nachmittag noch eine Tour auf den Gletscher, den Drangajökull unternehmen.

Langsam steigt das Gelände an. In der Ferne ist das Rauschen der Skorara, eines aus den Bergen kommenden Flusses zu hören. Ein Weg ist selten, und dann nur andeutungsweise zu erkennen. Wir kommen an eine Holzbrücke, die die Skorara überquert, und machen kurz Rast. Der über die Brücke verlaufende Weg, so scheint es uns, führt zu weit von unserem Ziel weg. So entscheiden wir, diesseits des Flusses weiter aufzusteigen.

Kurze Zeit später kommen wir an einem eindrucksvollen Wasserfall vorbei. Es liegt für diese Jahreszeit noch viel Schnee in den Bergen, bis zum Ende unserer Tour werden wir etliche Schneefelder zu überqueren haben. Das derzeit warme Wetter lässt den Schnee schmelzen und die Flüsse anschwellen.

Vielleicht hätten wir doch die Brücke unten im Tal nehmen sollen, irgendwie müssen wir jetzt über den Fluss. Oberhalb des Wasserfalls suchen wir eine geeignete Stelle. Die einzige Möglichkeit zum Hinüberwechseln ans andere Ufer bietet eine Schneebrücke. An einigen Stellen hat sie schon Löcher, die von bläulich schimmerndem Eis umgeben sind und den Blick auf die reißenden Wassermassen freigeben. Risikoabwägung: es ist kein ganz ungefährliches Unternehmen, aber die einzige Möglichkeit hinüberzukommen, ohne einen längeren Umweg in Kauf nehmen zu müssen.

Ich entledige mich meines Rucksacks und teste vorsichtig die Tragfähigkeit der Schneebrücke. Anzeichen von versteckten Spalten sind nicht zu erkennen. Dreißig Sekunden mulmigen Gefühls, dann bin ich drüben. Die Brücke scheint als Übergang zu taugen. Also zurück, Rucksack schultern und einer nach dem anderen so schnell es geht, das Ufer wechseln. Alle langen wohlbehalten an.

Der restliche Aufstieg zum Skorarvatn ist problemlos. Bald liegt er vor uns, an seinem südwestlichen Ufer verläuft ein gut erkennbarer Weg. Es ist recht windig hier oben, so suchen wir uns einen einigermaßen geschützten Platz hinter einem niedrigen Hügel, ein wenig oberhalb des Sees. Die Zelte stehen nach kurzer Zeit, zwischen beiden spannen wir als Windschutz eine große Zeltplane, die wir glücklicherweise doch noch mitgenommen haben. Fast wäre sie unseren Bemühungen, Gewicht einzusparen, zum Opfer gefallen. Die Plane wird uns noch oft gute Dienste als Schutz unseres Koch- und Essplatzes vor Regen und Wind leisten.

Wir kochen einen Kaffee und machen uns dann an den Aufstieg zum Drangajökull. Gegen halb sechs Uhr abends brechen wir mit leichtem Rucksack auf. Es läuft sich gleich viel entspannter. In unserer ursprünglichen Planung war ein Ausflug zum Gletscher nur für den Fall vorgesehen, dass wir am Ende unserer Tour noch Zeit haben. Nun, da wir die Richtung unseres Treks umgekehrt haben, liegt der Gletscher am Anfang des Weges. Da er nicht unser eigentliches Ziel ist, beabsichtigen wir nicht, bis zu seinem Gipfel, der Jökulbunga auf 925 Metern, vorzudringen. Einen extra Tag für den Gletscher wollen wir nicht opfern, da wir nicht wissen, was uns das Wetter in den nächsten zehn Tagen bescheren wird. So beschließen wir, so weit zu gehen, wie es uns vernünftig erscheint.

Anfangs führt unser wegloser Aufstieg über grüne Matten, mit Gras bewachsene Geröllfelder und Schneefelder. Und dann lernen wir sie kennen, diese tückischen Stellen: scheinbar feste Erde, mit kleinen und größeren Steinen durchsetzt. Wie eine grober, unbefestigter Feldweg. In den heimischen Bergen würde man bedenkenlos darüber hinweggehen. Hier versinkt man oft urplötzlich bis zum Knöchel in weichem, zähem Morast. Selbst größere Steine, auf die man tritt, versinken gleich mit. Offenbar wurden diese Stellen erst kürzlich vom Schnee freigegeben und sind nur oberflächlich abgetrocknet. Unter der Oberfläche sind sie aber triefnass. Noch des Öfteren werden wir in diese Fallen tappen und unter Fluchen versuchen, die Schuhe wieder einigermaßen sauber zu bekommen.

Wir gehen durch idyllische weiche Wiesen, die von unzähligen kleinen Bächen, Nebenarmen des großen Gletscherflusses durchsetzt sind. Ein Regenpfeifer versucht, uns mit linkischen Bewegungen von seinem Nest wegzulocken. Das kristallklare Wasser aus den Bächen schmeckt köstlich. Bald sind wir am Rand des Drangajökull angelangt. Steil zieht ein Schneefeld nach oben. Es ist schon etwas aufgeweichter Firnschnee, in dem sich gut nach oben steigen lässt. Die Grödeln hatten wir zwar sicherheitshalber mitgenommen, wir benötigen sie aber nicht. Von Spalten ist keine Spur zu entdecken.

Der steile Aufstieg treibt uns den Schweiß aus allen Poren. Je höher wir steigen, desto mehr öffnet sich der Blick. Langsam legt sich der Hang zurück. Und dann ist es wieder wie immer in den Bergen: man sieht den vermeintlichen Gipfel vor sich liegen, doch noch bevor man ihn erreicht hat, öffnen sich neue Aus- und Einsichten, das Spiel beginnt von vorn. Wir beschließen, bis etwa acht Uhr weiterzugehen und dann umzukehren. Bis zum Gipfel des Gletschers sind es hin und zurück bestimmt noch vier bis fünf Stunden, dann wären wir erst am frühen Morgen wieder bei unseren Zelten. Fehlendes Licht wäre nicht das Problem, aber schließlich wollen wir morgen einigermaßen früh aus den Federn.

Gegen acht Uhr sind wir auf etwa 650 Metern Höhe, noch knapp 300 Höhenmeter bis zum Gipfel. Wir machen Rast und genießen die fantastische Rundumsicht, die nur in Richtung des weiteren Aufstiegs versperrt ist. Wir sind allein auf dem Gletscher. Die absolute Stille wird nur durch das Klicken unserer Kameras gestört. In einige der unter uns liegenden Fjorde ist bereits wieder dünner, zäher Nebel gekrochen. In nördlicher Richtung, hinter scheinbar unzähligen Bergen, ragt eine markante Spitze empor. Das muss das Horn sein, das noch ferne Ziel unserer Reise. Im Moment bewegt uns nur die Vorstellung, die schweren Rucksäcke bis dorthin schleppen zu müssen. Aber wir selbst haben diese Art des Reisens gewählt und wollen mit niemandem tauschen. Kein Luxushotel, und hätte es noch so viele Sterne, könnte uns das bieten.

Die grandiose, fast unberührte, urweltlich anmutende Landschaft lässt uns schweigen. Das ist einer jener Momente, von denen Reinhard Karl in seinem Kultbuch Yosemite - Klettern im senkrechten Paradies schrieb:

Während langsam die Sonne am Horizont verschwindet und der Grenzbereich zwischen Tag und Nacht für wenige Momente alles in ein irreguläres Licht taucht, beginnen mir langsam die Tränen zu laufen. Ich weiß, das war soeben ein Höhepunkt im Bergsteigen, vielleicht der emotionale Endpunkt, mehr ist nicht drin, das kommt nie wieder! Mein Verstand sagt mir: "Heb Dir das gut auf in Deinem Gedächtnis, leg es in Deine geistige Glasvitrine, das ist reines Gold". Und ich fühle mich in diesem Augenblick unheimlich reich.

Zur Erinnerung: Reinhard Karl war in den siebziger Jahren einer der besten Allround-Bergsteiger der Welt. Er stand als erster Deutscher auf dem Gipfel des Mount Everest und war ein begnadeter Kletterer. Entgegen dem seinerzeit üblichen Eroberungsalpinismus vertrat er, geprägt durch viele Aufenthalte im kalifornischen Yosemite, beim Klettern die Philosophie des By fair means. Dem Berg eine Chance geben, nur das zum Klettern verwenden, was der Fels an natürlichen Möglichkeiten bietet. Haken nur zur Sicherung benutzen, keine Spuren hinterlassen. Was heute eine Selbstverständlichkeit ist, war damals Neuland. Eines der wenigen Beispiele für einen positiven Trend, der aus Amerika nach Europa importiert wurde.

Nebenbei bemerkt: es war eigentlich nur ein Reimport, denn die Amerikaner, die diesen neuen Trend kreierten, waren ihrerseits stark von Fritz Wiessner beeinflusst, einem in die USA emigrierten Sachsen. Und im Elbsandsteingebirge hat man die Philosophie des Freikletterns schon von Anbeginn an vertreten.

Karl war einer der ersten, die den neuen Trend nach Europa brachten. Im Jahre 1977 eröffnete er zusammen mit Helmut Kiene die berühmt-berüchtigten Pumprisse am Fleischbankpfeiler im Wilden Kaiser. Damals wie heute eine anspruchsvolle Kletterei. Als erste Tour in den Alpen überhaupt stuften die beiden Erstbegeher sie in den siebten Schwierigkeitsgrad ein, etwas, was bis dahin keiner gewagt hatte. Es war wie ein Befreiungsschlag, fortan purzelten die "Siebener" wie überreife Pflaumen von einem Baum.

Reinhard Karl prägte mit seinen Leistungen und seinen Büchern eine ganze Generation von Kletterern. Seine authentischen, emotionalen Berichte setzten sich deutlich von den heroischen Schilderungen der klassischen Alpinliteratur ab, und seine Schwarzweißfotos zählen für mich zu den besten, die fotografierende Alpinisten hervorgebracht haben. Leider viel zu früh, im Mai 1982, kam Reinhard Karl in einer Eislawine am Cho Oyu im Himalaja ums Leben.

Wir machen uns langsam an den Abstieg. Die steilen Schneehänge geht es nun wie im Flug abwärts. Unsere Aufstiegsspuren sind noch gut zu erkennen. Langsam zieht auch in unserem Tal Nebel auf. Auf dem Rückweg über die Geröllfelder verrät ein gelegentlicher Blick auf das GPS, dass wir uns von unserem Aufstiegsweg entfernen, obwohl wir geglaubt hatten, uns diesen gut eingeprägt zu haben. Als wir im Tal ankommen, lernen wir die Vorteile des GPS zu schätzen. Selbst ohne Nebel wäre es in dem unübersichtlichen Gelände nicht einfach gewesen, unsere den Farben der Landschaft angepassten Zelte wiederzufinden. Ohne größeres Suchen sind wir bald an unserem Camp. Es ist zehn Uhr.

Sofort machen wir uns ans Kochen, denn wir sind ziemlich hungrig. Das Abendessen ist auf unserer Tour immer eines der schönsten Rituale. Unser Ernährungsplan sieht in etwa folgendermaßen aus:

Zum Frühstück etwa 100 Gramm Müsli, mit etwas Trockenmilchpulver und heißem Wasser zu einem mehr oder weniger (eher weniger) schmackhaften Brei verrührt. Wir sind alle keine eingefleischten "Kerndlfresser", und so ist das Frühstück mehr ein Muss, denn ein Genuss. Das Beste ist der die Lebensgeister weckende Kaffee.

Tagsüber haben wir jeder ein, zwei Müsli- oder Früchteriegel und ein paar Stücke Traubenzucker einstecken, die wir nach Bedarf zu uns nehmen. Bei dem anstrengenden Gehen entwickelt man sowieso kein großes Hungergefühl, zumindest mir geht es so.

Das Beste ist das Abendessen. Für vier Leute gibt es drei Beutel einer dicken Suppe: Erbsen-, Linsen-, Kartoffelsuppe. Gelegentlich wird die Suppe durch ein paar Kurznudeln, etwas gebratenen Tiroler Speck oder ein Würstchen aufgewertet. Gut abgewürzt sind diese Suppen ein Genuss. Danach gibt es einen heißen Tee, verfeinert mit einem Schuss Stroh-Rum, den die Flughafenkontrolle glücklicherweise nicht entdeckt hat. Zum krönenden Abschluss nach einem guten Essen dann noch einen halben Zigarillo, und die Welt ist in Ordnung.

Wir hatten bei der Planung der Tour auch daran gedacht, Expeditionsnahrung mitzunehmen. Abgesehen davon, dass sie unverhältnismäßig teuer ist, bietet sie sicher keinen höheren Nährwert als unsere Suppen, und schmecken wird sie wahrscheinlich auch nicht so, wie die Hersteller es versprechen. Uns war klar, dass wir bei den begrenzten Mengen an Essen, die wir mit uns führen können, und dem täglichen hohen Kalorienverbrauch eine negative Energiebilanz verbuchen würden. Aber außer Ludwig trugen wir alle ein paar überflüssige Pfunde mit uns herum, die wir hofften, auf diese Art und Weise loszuwerden.

Als wir mit dem Abendessen fertig sind, ist es fast Mitternacht. Der Nebel lichtet sich stellenweise und gibt den Blick auf die Mitternachtssonne frei, ein fast gespenstisches Bild. Der Himmel verspricht für den morgigen Tag gutes Wetter.


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